Auch die Naturgesetze sind vergänglich

Naturgesetze gehören nach gängiger Auffassung zum unwandelbaren Bestand der Naturwissenschaften. Ein Physiker und ein Philosoph verabschieden sich nun von dieser Vorstellung.

Eduard Kaeser
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Ist die Zeit real? Ja, finden Smolin und Unger. (Bild: Creative Commons)

Ist die Zeit real? Ja, finden Smolin und Unger. (Bild: Creative Commons)

Zu den spektakulärsten Entdeckungen der Physik gehören oft unvorhergesehene Konsequenzen aus Theorien. Die allgemeine Relativitätstheorie hat eine solche Konsequenz: die Geschichtlichkeit des Universums. Es entsteht und vergeht. Und eine weitere Konsequenz wäre: Kann man dies dann nicht auch von den Naturgesetzen sagen? Die Frage tönt in vielen Physikerohren geradezu ketzerisch. «Der bestirnte Himmel» gilt seit Kant als Emblem der zeitlosen Naturgesetzmässigkeit. Der Kulminationspunkt dieser Idee ist die allumfassende Weltformel, die Physiker von Einstein bis Hawking und Weinberg in ihren Bann geschlagen hat.

Warum so und nicht anders?

Bis vor kurzem war auch Lee Smolin, der Querdenker vom Perimeter Institute in Waterloo, Kanada, dieser Idee verfallen. Nun aber widersetzt er sich ihr, zusammen mit dem brasilianischen Philosophen Roberto Mangabeira Unger von der Harvard Law School. Die beiden haben ein dickes Buch publiziert mit dem Titel «The Singular Universe and the Reality of Time». Darin gehen sie vom «interessantesten Merkmal der natürlichen Welt» aus, nämlich der Tatsache, «dass sie das ist, was sie ist, und nicht etwas anderes».

So trivial das klingt, so brisant ist die These in Fachkreisen. Sie attackiert frontal die Stringtheorie, deren Pluralität der Paralleluniversen unser Universum als einen blossen Zufall erachtet. Die Singularitätsthese taucht aber tiefer, quasi zur Quelle des kosmischen Zeitflusses. Warum gibt es ihn überhaupt? Gemäss der klassischen Vorstellung gehören Zeit und Raum eigentlich gar nicht zur Physik, sie bilden vielmehr den «ewigen» Rahmen, in dem sich das Naturgeschehen abspielt. Eine metaphysische Idee. Einsteins grösste Leistung in der allgemeinen Relativitätstheorie bestand darin, dass er diese Metaphysik in Physik verwandelte, Raum und Zeit zum dynamischen physikalischen Feld einer Raumzeit verschmolz. Auch diese Raumzeit unterliegt aber immer noch unveränderlichen Gesetzen – den Einstein-Gleichungen –, die bestimmen, wie die Materie die Raumzeit formt. Was aber, wenn sich diese Gesetze selbst auch veränderten?

Das Jetzt bestimmt das Morgen

Die naturphilosophische Baustelle, die mit dieser Frage aufgerissen wird, ist von kaum erahnbarem Ausmass. Ich beschränke mich hier auf das Konzept des Naturgesetzes. Zu Newtons Zeiten sahen die Naturphilosophen im Universum ein gigantisches Uhrwerk, mit Gott als dem primordialen Uhrmacher. Heute würde man profaner die Metapher des Computers wählen, mit den Gesetzen der Physik als Programm. Gibt man dem kosmischen Computer den gegenwärtigen Zustand der Welt (was das auch genau bedeutet) als Input ein, so berechnet er in einer angemessenen Laufzeit den Zustand der Welt zu einem beliebigen späteren Zeitpunkt. Diese Ambition kommt im berühmten Dämon zum Ausdruck, den der Mathematiker Pierre-Simon de Laplace im 18. Jahrhundert ersann: ein Dämon mit der Gabe, aus dem jetzigen Weltzustand den künftigen berechnen zu können.

Nun ist es genau diese «dämonische» Vorstellung des Determinismus, welche dem Naturgeschehen die Zeit austreibt. Denn was, wenn nicht das Disruptive, Neue, Überraschende, führt uns das Walten der Zeit konkret und unabweisbar vor Augen. Für einen Laplaceschen Dämon wäre buchstäblich nichts neu, blasiert würde er das Weltgeschehen immer wieder glossieren: Aber das war doch vorauszusehen.

Dieses Ideal – das Newtonsche Paradigma nennt es Smolin – dominierte die klassische Physik. Die Quantentheorie hat es verabschiedet. Aber den eigentlichen Gnadenstoss erteilt ihm die Kosmologie. Denn wie Smolin schreibt, «gerät das Problem des Determinismus mit der Tatsache in Konflikt, dass die Methode der Physik (. . .) auf kleine Teilsysteme des Universums anwendbar ist. Bevor wir die Frage beantworten können, ob zufällige Ereignisse in unserem Leben vollständig durch vorhergehende Bedingungen determiniert seien, müssen wir wissen, ob unsere Theorien massstabgerecht auf das Universum erweitert werden können.» Und daran besteht grosser Zweifel.

Die Welt als Störfaktor

Man kann diesen Zweifel am Beispiel eines Schulexperiments plausibel machen. Wir lassen eine Kugel die schiefe Rinne hinunterrollen. Wir sagen: Die Kugel «gehorcht» den Newtonschen Gesetzen der Natur. So weit, so lehrbuchmässig. Aber wir haben uns insgeheim eines Tricks bedient: Wir definieren die relevanten Parameter (Neigung der Rinne, Reibung, Trägheitsmoment der Kugel usw.) und legen die Anfangsbedingungen fest. Den Rest der Welt schliessen wir als «Störfaktor» aus. Oder umgekehrt gesagt: Gerade dadurch können wir den Versuch wie von aussen betrachten. Würden wir ihn nicht isoliert durchführen, würden wir feststellen, dass die Newtonschen Gesetze gar nicht exakt, sondern nur approximativ auf die Phänomene zutreffen, weil sie von einer nicht zu überblickenden Zahl von zufälligen Randbedingungen abhängen.

Smolin hat dies einmal in die These gefasst: Es gibt nichts ausserhalb des Universums. Das heisst aber im Extremfall, dass jedes Objekt im Universum nur relativ zu allen andern Objekten definierbar ist. Man könnte sich also den spekulativen Fall ausmalen, dass wir in unserem Versuch alle nur erdenklichen Welteinflüsse berücksichtigen würden. In einem solchen Fall wäre das Experiment buchstäblich historisch: nicht zu wiederholen. Und wir kämen wohl nicht auf die Idee, dass in der Natur einfache Gesetze «herrschen».

Das klassische Experiment eliminiert die Zeit, indem es die Phänomene kopierbar macht. Es beruht auf der Idee, dass wir die Versuche beliebig (unter variablen Bedingungen) wiederholen können. Das Universum aber ist ein einziger Versuch. Und dieser Versuch ist nicht reversibel. Deshalb besteht der grosse, der «kosmologische Fehlschluss» (Smolin) darin, das ganze Universum quasi unter das Protektorat einer Physik seiner Subsysteme zu bringen.

Reale Zeit manifestiert sich im Entstehen und Vergehen, also in einer zeitlichen Asymmetrie. Wir stellen Zeitpfeile überall fest. Es gibt den kosmischen Zeitpfeil: das Universum expandiert; den thermodynamischen Zeitpfeil: die Entropie geschlossener Systeme nimmt zu; den biologischen Zeitpfeil: Lebewesen werden geboren und sterben; den psychologischen Zeitpfeil: wer hat nicht schon das Gefühl des Vorbei gehabt. Zeit bringt Asymmetrie in die Welt, oder vielmehr: Diese Asymmetrie ist die Zeit, das ungelöste Rätsel der Physik, des Lebens überhaupt. Sie weckt in uns unter anderem die Idee der Kausalität. Es gibt ein Vorher der Ursache und ein Nachher der Wirkung.

Die Physik bringt kausale Zusammenhänge in die Form von Gesetzen, ausgedrückt in mathematischen Gleichungen. Aber hier tut sich ein – buchstäblich universeller – Widerspruch auf: Diese Gleichungen gelten – fast ausnahmslos – auch unter Zeitumkehr, die Geschichte des Universums kennt freilich keine Zeitumkehr (der Widerspruch ist seit dem 19. Jahrhundert als Umkehreinwand bekannt).

Aus diesem Grund betrachten Unger und Smolin die Gesetze sozusagen als Derivate der asymmetrischen kosmischen Entwicklung. Das Universum geschieht – es kennt nur Präzedenzien, keine unveränderlichen Gesetze. Gewiss, die Natur wiederholt sich oft, und die Regularitäten, die wir dabei entdecken, gestatten uns recht und schlecht, das Geschehen zu erklären. Genauer betrachtet, ist die Stabilität der Naturgesetze etwas Rätselhaftes, die grössten Physiker des letzten Jahrhunderts haben sie schlichtweg als Wunder bezeichnet.

Folge von Notwendigkeiten

Ist eine Physik mit vergänglichen Gesetzen überhaupt denkbar? Unger und Smolin sind sich dieses Einwands bewusst: «Wenn sich die Naturgesetze ändern, wie können wir dann hoffen, Forschung auf einer sicheren Basis zu betreiben?» Die Antwort: Man muss Zeithierarchien unterscheiden. Die Gesetze verändern sich ja nicht von heute auf morgen. In einem gereiften und ausgekühlten Universum wie dem heutigen können sie als nahezu unveränderlich betrachtet werden. Nahezu, wohlgemerkt – im Grunde regiert im singulären Kosmos die Zeit im Sinne unaufhörlicher Veränderung.

Hier fällt ein wiederkehrendes Muster in der Erklärungsstrategie der Physik auf. Die hinunterrollende Kugel «gehorcht» der Notwendigkeit der Newtonschen Gesetze; die Newtonschen Gesetze aber bringen eine «singuläre» Grösse ins Spiel, die Gravitationskonstante. Warum hat sie gerade den Wert, den sie hat? Die Singularität muss erneut erklärt werden durch neue Gesetze. Diese neuen Gesetze bringen wiederum Zufälliges ins Spiel, und so fort bis zum letzten «factum brutum»: dem Universum, das ist, was es ist.

Die Geschichte des Wissens über das Universum liesse sich als eine alternierende Folge von solchen Notwendigkeiten und Zufällen schreiben – eine «kosmologische natürliche Auswahl», wie Smolin sie nennt. Was das sein soll, bleibt freilich unklar. Eine Extrapolation des Darwinschen Paradigmas auf das Universum? Spielt sich eine solche Evolution völlig gesetzlos ab, oder ist sie nun wiederum bestimmt von Metagesetzen, die Unger und Smolin an einer Stelle als heiligen Gral der Kosmologie bezeichnen?

Wie auch immer, was uns geliefert wird, ist keine Theorie, sondern die Agenda für eine künftige Theorie: eine «Wiedererfindung der Naturphilosophie» (Unger). Ob sie dazu führen wird, das Buch der Natur neu zu schreiben, liegt in spekulativem Dämmer. Und wenn sie die Idee der Weltformel verabschiedet, warum sollte dann die Idee der Weltevolution vor einem solchen Akt verschont bleiben – könnte nicht auch sie sich als zeitlich im trivialen Sinne herausstellen: als vergänglicher Ehrgeiz von kosmologischen Gralssuchern?

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